Work-Life-Balance, neu definiert

Die Grenzen zwischen Privat- und Arbeitsleben verschwinden – und für viele ist dies sogar das Geheimnis des eigenen Erfolgs.

Man nennt sie die «Googliness». Diese Arbeitsatmosphäre, die mit Sitzsäcken, Ping-Pong-Tischen und Turnschuhen in Verbindung gebracht wird – aber bloss nicht mit harter Arbeit. Die lockere Art eines Unternehmens – Google war das erste dieser Art –, das seinen Mitarbeitern gestattet, Pause zu machen, wann immer sie wollen, privat zu telefonieren und sich am kostenlosen kulinarischen Angebot der Kantine zu bedienen. Klingt wie im Schlaraffenland? Vielleicht.

Doch trotz aller Googliness – oder gerade deswegen – wird viel erwartet von den Mitarbeitern. Überstunden sind an der Tagesordnung, Socializing gehört genauso in die Stellenbeschreibung wie Fachwissen. Der Einwand, Socializing sei doch nichts Negatives, schliesslich verbringe man viel Zeit mit den Kollegen, gilt dennoch immer weniger. Denn auch sozialer Druck ist Druck. Facebook-Friend mit der gesamten Abteilung zu sein, regelmässig abends ein Bier zusammen zu trinken und am Wochenende mit dem Team auf die Paintballfarm zu müssen, trägt nicht unbedingt zu einer idealen Work-Life-Balance bei. Denn das Privatleben – das echte, möchte man meinen – kommt dabei zu kurz.

Mit dem Panzer ...
Unternehmen, die diese Firmenkultur vermehrt leben, haben nicht unbedingt einen Flipperkasten im Korridor oder gar Sofas, auf denen gearbeitet wird. Doch sie sind in der Freizeit ihrer Mitarbeiter ebenfalls präsent, sie machen aus dem Privatleben sozusagen einen Zweitjob. So erzählt die Titelgeschichte der aktuellen «Zeit» (online nicht verfügbar) von Arbeitgebern, die Panzerfahrten mit ihren Mitarbeitern organisieren, um diese als Team zusammenzuschweissen. Dass sie dabei von ihnen verlangen, auch am Wochenende für die Firma da zu sein, könnte man auf den ersten Blick als ausschliesslich positiv werten – vor allem auf Arbeitgeberseite. Für Arbeitnehmer kann dieses «Blending», das Vermischen von Privat- und Arbeitsleben, bald zum Problem werden.

Auch Psychologen beklagen diesen Zustand zusehends. Mitarbeiter, die nach Feierabend dem Chef zur Verfügung stehen sollen, seien weit mehr Burn-out-gefährdet als solche, die das Wochenende mit Freunden und Familie verbringen dürfen. «Bestand im Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vor allem die Gefahr der Entfremdung von der Arbeit und der Fremdausbeutung, droht mittlerweile in der Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts plötzlich das Gegenteil: die Selbstausbeutung», so Bärbel Kerber in ihrem Buch «Die Arbeitsfalle».

Einerseits gibt es keine Stempeluhr mehr, andererseits weiss jeder Arbeitnehmer, was er zu leisten hat. Was eben dazu führt, dass er Arbeit mit nach Hause nimmt oder einen Conference Call mitten in den Ferien ansetzt. Entsprechend wurden noch nie so viele Überstunden gemacht wie heute.

Was ist denn nun mit der Work-Life-Balance? Die ist passé, denn sie birgt nur Stress, meinte erst letzte Woche der Organisationsguru Rosh Ashkenas auf Forbes.com. In seinem Artikel erzählte er, wie er mitten in seinen Ferien einen Conference Call organisierte und sich dabei pudelwohl fühlte. Denn erstens schaffe er so das ständige schlechte Gewissen ab, zu wenig zu arbeiten. Ausserdem sei er nach dem Telefonat ja wieder ganz für die Familie da gewesen. Zweitens sei man viel produktiver, wenn man seine Zeit nicht strikt in «Arbeit» und «Privat» einteile.

... oder gar nicht
Das leuchtet ein, nur mag es nicht jeder, seine freie Zeit mit den Arbeitskollegen zu verbringen, schliesslich hat man Freunde und Familie, die auch Ansprüche haben. Manche verzichten deshalb gar ganz auf die Karriere, um dem Privatleben den Vorrang zu lassen. Die sogenannten «Karriereverweigerer» sind zwar (noch) keine wirkliche Bewegung, doch ein Artikel diesen Sommer auf «Spiegel online» zeigt, wie aktuell das Thema ist: Innert kürzester Zeit kommentierten Hunderte von Lesern den entsprechenden Text. Tenor: Sie würden auch gerne kürzertreten, die Karriere sei ihnen eigentlich nicht so wichtig, sie würden viel lieber Zeit mit der Familie verbringen. So berichteten letzte Woche Studienabgänger und Laufbahnberater in der Sendung «Kulturzeit» von einer Generation, der die althergebrachten Jobmühlen nicht mehr genügen. Ihre Work-Life-Balance tendiere ganz klar in Richtung «Life».

Führungskräfte, die ihren Top-Job aufgeben, um eine Kita zu leiten, sind zwar immer noch rar, dennoch zeigt auch eine Studie des «Deutschen Führungskräfteverbandes», dass die Generation Y gar nicht mehr Chef sein will. Und das bereits ab der Ausbildung. Viel mehr möchten sich Hochschulabsolventen wirklich mit ihrer Arbeit identifizieren können, wenn es geht, sogar Gutes tun. Das grosse Geld und der lederne Chefsessel nehmen an Wichtigkeit wieder ab.

Diese «Luxusfrage», welcher Trend sich durchsetzen wird – Googliness oder Karriereverweigerung –, können sich natürlich nur Länder mit niedriger Arbeitslosenquote stellen. Überall sonst ist man einfach froh um einen Job, ob im Sitzsack oder auf der Holzbank.

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(Dieser Artikel erschien ursprünglich auf clack.ch)

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