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Auf ein Gläschen Me Time

Ein paar Strassen vom Strandhaus entfernt, das wir in Amerika zusammen mit Schwestern, Onkeln, Grosseltern, Cousinen, Schwägerinnen und Schwagern gemietet hatten, gab es eine kleine Apéro-Bar, in der man vorzügliche Margaritas geniessen konnte. Die Bar war stets voll und ganz nach meinem Geschmack. Bis auf den Namen: Sie hiess «Me Time».



Von Nicole Althaus für den Mamablog

Nicht, dass ich etwas gegen die Zeit auszusetzen hätte, die man sich für sich selber nimmt. Im Gegenteil. Die Vorzüge der Me-Time sind nicht zu überschätzen. Vorab für Eltern. Doch die Karriere des Wortes verhält sich leider umgekehrt proportional zur Me-Time, die Menschen sich heute auch tatsächlich noch gönnen. Vorab Eltern. Vorab in den USA.

Das Me-Time- Glaubensbekenntnis hat mich die letzten drei Wochen in Amerika auf Schritt und Tritt verfolgt. Die Werbewelt und vorab die Babyindustrie hat den Terminus vollkommen vereinnahmt und ihn bis zur Sinnlosigkeit entleert:

Ein Stück Me-Time für jeden Tag – verspricht die Werbung für ein Duschgel. Ein Glas Grüntee ist neuerdings nichts weniger als koffein- und kalorienfreie Me-Time. Das Zeitungsabo wird zur Me-Time, die sich jeder leisten sollte. Das richtige Babybett verspricht den Eltern geruhsamere Me-Time in der Nacht. Und nach der Snuggle Time mit Baby darf Mama ihren müden Beinen in einem Bad die wohlverdiente Me-Time angedeihen lassen. Fehlt eigentlich nur noch der ungestörte Gang auf die Toilette! Me-Time par excellence!

Seit wann, fragte ich mich, sind ganz normale Tätigkeiten wie Lesen, Duschen, Teetrinken oder Baden zur Freizeitaktivität geworden? Zu Auszeiten, die man sich bewusst gönnen muss, wenn die Kinder grad bei Oma sind oder bereits schlafen? Ist die tägliche Dusche oder das Lesen einer Tageszeitung wirklich so ungeheuer, dass wir dafür unsere Freizeit oder Me-Time dafür opfern müssen? Hat uns der Nachwuchs so sehr im Griff, dass eine Margarita den fast schon verwegenen Höhepunkt eines Erwachsenenurlaubs darstellt? Haben Eltern irgendwann im letzten Jahrzehnt Aufzucht mit Selbstaufgabe verwechselt?

Offenbar. Am Strand vor dem Haus jedenfalls wurden die Sandburgen von einem metergrossen Alleinherrscher regiert und von mindestens drei erwachsenen Sklaven jeden Alters gebaut. Mütter fütterten ununterbrochen, mahnten, putzten, lobten und rieben ihre Jungschar mit Sunblocker ein. Bücher lesen sah man ausschliesslich Kinder oder Kinderlose. Und mich. Ich gönnte mir doch tatsächlich 455 Seiten Me-Time und fühlte mich kein bisschen asozial.

Ich glaube nämlich nicht, dass meine Töchter verdursten, wenn ich ihnen nicht permanent mit einer Wasserflasche nachspringe. Ich glaube nicht, dass ich den Bau jeder einzelnen Sandburg begleiten und auf Video dokumentieren muss, damit die Kinder sich dereinst an die Ferien erinnern. Ich glaube, dass Ferien auch für Mütter und Väter tatsächlich und wirklich Auszeit bedeuten, und nicht bloss auf ein Gläschen Margarita und ein Bikini-Waxing rationierte Me-Time. Und ich glaube, dass sich Kinder allein beschäftigen können und ab einem gewissen Alter, das doch beträchtlich unter der Volljährigkeit liegt, auch mal aus dem elterlichen Blickfeld verschwinden dürfen.

Das liegt wohl daran, dass ich Europäerin bin, dachte ich. Bis ich gestern abend den Stapel Post öffnete, der sich in unserer Abwesenheit auf dem Tisch angesammelt hatte. Darunter eine Werbebroschüre eines neuen Coiffeurgeschäfts. Am Zürichsee. «Kinderhaarschnitt – Cüpli und ein paar ruhige Minuten fürs Mami inklusive», stand da.

Jetzt macht mal Pause, bitte! Aber keine, die in einem Glas serviert wird.

Kommentare

Christian Houben hat gesagt…
Großartig, Nicole!
Wenn man ME-Time auf Deutsch googelt, erhält man zur Zeit nur eine Auszeit-Anzeige einer Wellness-Hotel-Kette.
Ihr Beitrag war geradezu köstlich.

Beste Grüße aus Duisburg (D)

Christian (Anti-Burnout-Coach)

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