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Die Spielverderber

«Der Besuch eines Puppentheaters ist eine pädagogisch sinnvolle Freizeitbeschäftigung für Kinder», war auf dem Flyer zu lesen. Der sollte uns 50 Mütter und Väter, die an diesem kalten Januartag ihre Kinder in das kleine Theater ausserhalb von Washington DC gefahren hatten, in unserem Tun bestätigen.

Von Nicole Althaus

Als engagierte Mutter hätte man sich getrost zurücklehnen können. Die lieben Kleinen wurden von jemandem anderen unterhalten und lernten nebenbei erst noch, «sich in andere Charaktere einzufühlen und Handlungen zu antizipieren». Doch an ein Nickerchen war nicht zu denken. Denn im Saal sassen neben gespannten Kindern fünfzig angespannte Eltern, denen offenbar ein Ziel gemeinsam war: Das Optimum aus der Veranstaltung herauszuholen - respektive aus dem Kind. Der engagierte Vater in der vorderen Reihe stellte seinem Töchterchen eine Frage nach der anderen, um zu kontrollieren, ob es sich auch korrekt in die Puppenfiguren einfühlte. Die Mama daneben störte die Aufmerksamkeit ihres Sohnes in regelmässigen Abständen: «Ahnst du jetzt, wie die Geschichte enden könnte?»

Die Operation Optimierung überrollt das Kinderzimmer

Generationen von Kindern hatte der Kasperli für eine Stunde in eine andere Welt entführt. Im Jahr 2009 ist er zur bitterernsten Lektion in Empathie verkommen.

Man könnte sich mit der typisch mitteleuropäischen Manier über die US-amerikanischen Eltern amüsieren, die alles gern ein bisschen übertreiben. Doch der Trend ist längst auch hier angekommen. Nach dem Büro überrollt sie nun das Kinderzimmer: die Operation Optimierung.

Genügte dem Baby früher eine Krabbeldecke, wird heute schon der zweimonatige Säugling auf einer Activity Playmat mit verschiedenen Farben, Oberflächen und Hängekonstruktionen frühgefördert. Ging man vormals mit den Kindern sonntags Wandern, muss es heute mindestens ein Lernpfad sein.

Die Kindheit wird seziert, pädagogisch überholt und didaktisch aufbereitet. Und eben deshalb droht sie zu verschwinden. Denn einer der wesentlichen Bestandteile, das wertfreie und ungezwungene Spiel, ist in Verdacht geraten, blosse Zeitverschwendung zu sein. Die amerikanische Soziologin und Autorin Barbara Ehrenreich befürchtet, dass die pädagogische Annektion der Kindheit durch die wirtschaftliche Krise noch verschärft wird: «Wer sich vor dem sozialen Abstieg fürchtet, erhöht den Druck auf die Kinder», analysiert sie. Vorab moderne Mittelstandseltern übertrügen den Wettbewerb, den sie im eigenen Berufsleben erfahren, auf den Nachwuchs. Schon in der Kinderkrippe werde dieser heute auf Karriere getrimmt.

Die Angst, dass gut einfach nicht gut genug sein könnte, hat zu einem gigantischen «Mummy Market» geführt. In den Staaten ist er letztes Jahr auf 2,1 Billionen Dollar Umsatz angewachsen. Vom ersten Computer fürs Baby, über Wissenschaftsspiele und Bücher für «Superkids», bis hin zu Selbstdarstellungstrainings für Teenager bietet der moderne Erziehungsmarkt alles für die Optimierung des Projektes Kind.

In der Schweiz wird dieser Markt noch nicht von Spielzeug-marken dominiert, die «SuperKids» heissen oder «Genius babies», aber der Förderungsgedanke ist auch hier omnipräsent: Mit dem Gewächshaus-Experimentierkasten der «Galileo»-Redaktion etwa darf die 9-jährige Tochter am Schreibtisch lernen, Tomaten und Basilikum zu ziehen. Dessen Inhalt besteht aus sechs Töpfchen, sechs sauber verpackten Torfplättchen, Samen, einem kleinen Treibhaus aus Plastik. Und einer Anleitung mit anschaulicher Einführung in den chemischen Prozess der Photosynthese. Gärtnern mit Grosi hinterm Haus ist von gestern. Und macht schmutzige Hände.

Jedem Spass hängt man ein pädagogisches Mäntelchen um

Für das 5-jährige Schwesterchen lag das «Experiment Nummer 602048 - Seifenblasen» von Kosmos unter dem Weihnachtsbaum. Damit könnte das Mädchen nun mit «Röhrenplatten» und «Konstruktionsstäbchen» Seifenblasen in verschiedenen Formen herstellen und die Naturgesetze dahinter verstehen lernen. Nur ist Seifeblöterle damit so kompliziert geworden, dass das Kind die Supervision von Mama oder Papa braucht. Früher hat es das gut und gern allein gemacht. Die physikalische Frühförderung kam damals vielleicht zu kurz. Aber die Tochter hatte wenigstens Spass gehabt.

Doch dem Spass hängt man heute ein pädagogisches Mäntelchen um. Man muss ihn rechtfertigen. In Zeiten, in denen sogar das Mobile über dem Wickeltisch Lernerfolg generieren soll, müssen Kinder bald dankbar sein, wenn sie noch Schneemänner bauen dürfen, ohne vorher den Aggregatszustand des Wassers in seiner chemischen Formel bestimmt zu haben.

Umgekehrt finden sich auf dem Buchmarkt mittlerweile unzählige Titel, die den Kindern weismachen wollen, dass Dinge Spass machen, auch - nein gerade - wenn sie es nicht tun: «So macht Mathe Spass» preist sich ein Buch an. «Hausaufgaben - fit in 30 Minuten» verspricht mehr Spass
in der Schule für «Kids auf der Überholspur».

Beliebt sind auch die Kinderknigge-Kurse in teuren Hotels (der Vorweihnachtskurs im Luzerner Palace war ausgebucht), wo «Benimm Spass macht». Jeder, der schon mal versucht hat, einem Kind Tischmanieren beizubringen, weiss, dass dieser Erziehungs- akt der allgemein bekannten Definition von Spass nicht gerecht wird. Rülpsen nach dem Essen macht Spass. Sich dafür entschuldigen nicht.

Wäre die Lage nicht so ernst, man müsste laut lachen: Einerseits sollen Kinder von all dem, was einst Spass gemacht hat, nun plötzlich ganz viel lernen - was mitunter eben keinen Spass mehr macht. Andererseits dürfen sie nicht mehr mit Erziehungsinhalten belästigt werden, die nicht lustig sind oder als Spiel daherkommen.

Leider ging während dieser Entwicklung etwas ganz Wesentliches vergessen: Spielen und Spass haben gehören zu den wenigen Tätigkeiten, die Eltern dem Nachwuchs nicht vorschreiben können. Es gibt kein selbstvergessenes Spiel auf Befehl, keinen Spass auf Kommando. Kinder spielen nicht, um etwas zu lernen. Sie lernen, wenn sie spielen.

«Kinder brauchen Zeit, um sich selber zu sein»

Genau dieses freie Spiel aber ist heute nicht mehr selbstverständlich. Das beweisen die monatlichen Elternbriefe der Pro Juventute an frischgebackene Mütter und Väter in der Schweiz. Kinder bräuchten neben Ballettunterricht und musikalischer Frühförderung, neben Englisch und Babyschwimmen auch einfach Zeit, das wird darin immer wieder betont: «Zeit, um ihr eigenes fantasievolles Spiel zu entwickeln und mit allen Sinnen eigene Erfahrungen zu machen. Zeit, um sich selber zu sein.»

Die Kindheit scheint ernsthaft bedroht, wenn man Eltern an die erste aller Wahrheiten erinnern muss: dass ihre Kinder Kinder sind.

Publiziert am 09.01.2009
von: sonntagszeitung.ch

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