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Überzeugt überzogen

Der Kindergarten führte vor zwei Jahren Hochdeutsch ein. Bis heute bereitet das Thema sowohl Eltern als auch Politikern Kopfschmerzen. Oder Kopfweh?

"Es hat sich halt niemand freiwillig gemolden" entschuldigt sich Frau Weber (Name geändert), bei der Aufführung ihrer Kindergartenklasse, weil anstatt eines Kindes sie selber die jährliche Theateraufführung moderiert. "Aber ich bin überzogen, die Vorstellung wird Ihnen gefallen!" fügt sie hoffnungsvoll lächelnd hinzu.

Zwei Sätze, zwei Fehler. Gäbe bei einem Diktat eine vier. Nun haben Kindergärtner ja glücklicherweise noch keine Diktate zu bewältigen, ihnen die Fehler "gemolden" und "überzogen" wieder abzutrainieren wird jedoch schwer genug werden.

Ich fühlte mich nach diesem Auftakt sofort in meine Kindheit zurückversetzt. Wir mussten zwar erst in der Primarschule Hochdeutsch sprechen, die Fehler waren jedoch dieselben. Mit einem deutschen Vater zu Hause war es für mich besonders schmerzhaft, Ausdrücke wie "schlussendlich", "Finken" oder auch "Zeltli" über mich ergehen zu lassen. Dass ich als kleines Mädchen meine Lehrerin nicht widersprechen wollte, machte die Sache nicht einfacher. Besonders als sie mich bat, bitte kein "Fernsehdeutsch" mehr zu sprechen. Sollte das auch heute die Lösung sein? Hochdeutsch mit schweizer Akzent?

Für meinen Vater war es damals besonders schlimm. Beim Elternabend regte er sich regelmässig darüber auf, dass Lehrer, die in seiner Muttersprache unterrichten, von ihrem Können so "überzogen" sein konnten. So kam es, dass er meiner Primarlehrerin zurief "Wie überzogen? Etwa mit Schokolade?" Denn das, liebe Leser, ist die korrekte Verwendung dieses Wortes, das Schweizer verwenden, wenn sie "überzeugt" sind.

Bei Einführung des Hochdeutschen im Chindsgi dachte man, die Umstellung würde das Ergebnis der nächsten Pisa-Studie verbessern, was bekanntlich nicht eintraf. Sogar für den Tatort scheint diese Problematik schier unlösbar! Denn die Sprache Goethes ist nicht nur eine Abwandlung unserer Zürcher, St. Galler, Berner oder Basler Dialekte. Diese Sprache ist so reichhaltig, dass es meiner Meinung nach nur eine Lösung gibt, um unsere Kinder korrekt zu unterrichten: Deutsche Lehrer müssen her, zumindest für den Deutschunterricht! (Natürlich nur solche, die akzentrei sprechen, ich möchte auch nicht, dass mein Kind "schwöbelet".) Und bei dem hohen Anteil an Deutschen in der Deutschschweiz (sie sind in Zürich mit fast 20% die grösste Ausländergruppe), dürfte das ja wohl nicht allzu schwierig sein. Oder würde ein Deutscher den Eignungstest nicht bestehen, weil er die Kinder dazu ermahnt in der Klasse "Pantoffeln" statt "Finken" anzuziehen?

Was sind Ihre Erfahrungen mit der neuen Regelung? Sinn oder Unsinn?

Kommentare

Chris M. hat gesagt…
Ich stimme teilweise zu.
Schon bevor Hochdeutsch im Kindergarten aktuell wurde, konnte man Kinder beim Spielen Hochdeutsch sprechen hören. Sie ahmten nach, was sie im Fernseher gehört hatten (Sendung mit der Maus und Co. hoffentlich). Wenn man mal annimmt,dass deutsche Sender ein gutes Deutsch senden, dürfte auch heute noch ein grosser Teil unserer Kinder gute Vorbilder für Hochdeutsch haben - diese Vorbilder sind vermutlich(?) sogar stärker als eine Kindergärtnerin die Anfängerin im Hochdeutsch ist.
Pink hat gesagt…
Da stimme ich Chris zu. Obwohl mir manchmal Gänsehaut kommt, wenn unsere Kinder hochdeutsch spielen, scheinen sie diese Sprache ganz natürlich anzunehmen, daran werden auch die Fehler der Lehrer nichts ändern.

Aber da ja anscheinend keiner mehr Lehrer werden will in der Schweiz, finde ich die Idee mit den Deutschen gar nicht so schlecht. Sofern sie korrekt sprechen können.

Übrigens finde ich, es müsste im Englischen auch so gehandhabt werden. Als Native Speaker zucke ich jedes Mal zusammen, wenn meine Kinder ein neues englisches Wort aus der Schule mitbringen. DEN Akzent werden sie hoffentlich auch bald wieder los!

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