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"The" Realitätsverlust

Ein Klassiker unter den Erziehungsratgebern predigt die totale Bindung zum Baby. Realistisch ist das aber nicht.

Die Regale der Buchläden sind voll davon, jede von uns hat mindestens eines davon zu hause. Schlaf-, Ernährungs-, Erziehungs- und sogar Spiel-Ratgeber füllen auch unsere Büchergestelle. Die Bibel dieser Literatur nennt sich, wie es sich für eine Bibel gehört „The Baby Book“. Als gäbe es kein anderes.

William und Martha Sears predigen darin das „Attachment Parenting“. Diese Philosophie, die sich an den Naturvölkern orientiert, will, dass wir unser Baby im Tragetuch immer dabeihaben, mit ihm schlafen und wir uns ganz allgemein vollkommen seinen Bedürfnissen anpassen. Wie wir dabei auch noch Geld verdienen, den Haushalt schmeissen und überhaupt ein Leben haben sollen, sagen uns die Autoren wiederum nicht. Wahrscheinlich erwarten sie einfach, dass man reich genug ist, eben nicht arbeiten gehen zu müssen, eine Putzfrau zu haben und nur noch mit Freunden zu verkehren, die ebenfalls ihr Baby 24 Stunden am Tag vor sich hängen haben. Also ein Buch für Reiche?

Was bei diesem Ratgeber vor allem verstört, ist die Annahme, dass Mutter und Vater das alleine bewältigen sollen. Keine Grosseltern, die mal aushelfen und selbstverständlich auf keinen Fall einen Babysitter, um einmal in Ruhe zum Friseur zu gehen oder eine Art Eheleben zu fungieren.

Wenn Sie dazu die weiteren modernen Anforderungen an Eltern addieren: Selbstgemachter Babybrei, Stoffwindeln und einen dem Baby vollkommen angepassten Tagesablauf, landen Sie bei den neuen Idealen, wie Eltern zu sein haben. Alles andere wäre Gift für die Entwicklung unserer Kinder!

Nach der Ernährungspolizei kommt jetzt also auch die Fürsorgepolizei. Das Projekt Kind soll dank Tragetuch und Co-Sleeping erfolgreich über die Bühne gehen. Seit ein paar Jahren wird das Muttersein glorifiziert und wer nicht aufpasst, könne meinen, das sei etwas Positives. Ist es nicht, glauben Sie mir. Denn dabei werden nicht nur Mütter in einen goldenen Käfig gesperrt, unsere Kinder werden genauso instrumentalisiert. Moderne Eltern könnten auf die Idee kommen, ihr Kind formen zu können, wenn sie nur alles „richtig“ machen.

Kann man Kind und Mutter überhaupt gleich zufriedenstellen? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass der Chef das in Ordnung findet, wenn ich mein Baby im Tragetuch dabeihabe und mitten in der Sitzung anfange zu stillen. Und was ist mit Mittagsschlaf? Da müsste ich mich ja mit hinlegen, sonst habe ich die Pflicht des Co-Sleepings nicht erfüllt.

Bereits mit „Origins“ wird suggeriert, dass wir alleine dafür verantwortlich sind, ob unser Kind im Leben Defizite aufweisen wird oder nicht. Und zwar je nach dem wie wir uns während der Schwangerschaft verhalten. „The Baby Book“ geht noch einen Schritt weiter: Indem Eltern auf diese Art an ihr Kind gebunden werden, haben sie eine scheinbare Kontrolle in einer Welt, die sie nicht kontrollieren können. Ich kann alleine nicht verhindern, dass Menschen an Hunger sterben, ich kann aber mein Kind jahrelang stillen. Ich kann nichts gegen die wachsende Kriminalität unternehmen, nur schauen, dass der Stundenplan meines Sohnes vollgestopft ist, damit er keine Dummheiten macht.

Es ist kaum vorstellbar, dass Dr. Bill & Martha, bekannt dank über 40 Erziehungsbüchern und der Ratgebersite AskDrSears.com, das Leben mit ihren acht (!) Kindern auf die Weise gemeistert haben, wie sie es von heutigen Eltern verlangen. Ich wage zu bezweifeln, dass Dr. Sears das Tragetuch dabeihatte, als er in diversen Kinderkliniken Assistenzarzt war. Es kommt jedoch nicht von ungefähr, dass Martha der La leche Ligue angehört und sich eine „Professional Mother“ nennt. So wir ihr Buch „The Baby Book“ ist, stellt sie „The“ mother dar.

Diese Art von Literatur wirft immer wieder die Frage auf „Bin ich eine gute Mutter, ein guter Vater? Tue ich wirklich alles dafür, damit mein Kind gedeiht?“ Diese Schuldgefühle beginnen mit dem positiven Schwangerschaftstest und hören erst auf, wenn wir es beschliessen. Eltern brauchen keine Ratgeber, sie brauchen jemanden, der ihnen sagt: „Es gibt keine Regeln, tu einfach dein Bestes.“

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