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"Hochglanzfamilien im Vorführmodus"

Kennt ihr "Cookies"? Nicht auf dem Computer anzutreffen, sondern an Vernissagen, in hippen Restaurants und Szene-Badis: "Cool-mit-Kind". Das sind die, die trotz Kindern nichts an ihrem Lebensstil geändert haben und da weitermachen, wo sie aufgehört haben, als die Fruchtblase platzte...

Sonntagszeitung.ch: Ob auf Vernissagen oder in der Bar: Sie sind überall - und leider überall mit ihren Kindern, die Cookies, die Generation «Cool-mit-Kind»


Von Martina Bortolani

Und dann entdeckt die kleine Paula den dünnen Silkfaden, an dem eine «Pierre & Gilles»-Fotografie hängt. Paulas Mutter schnappt sich ein Glas Champagner von einem vorbeiziehenden Tablett und redet mit einer Bekannten, während ihr kleiner Sohn ungeduldig an ihrem Arm zerrt. Die schwüle Vernissagenluft in der Zürcher Galerie legt sich über das aufgekratzte Kunstpublikum. Dann zieht Paula kräftig, und das Bild fällt hinunter. Sofort stöckelt die Mutter auf ihren Stilettos heran, bückt sich, hebt das Bild auf und entschuldigt sich überschwenglich bei der Galeristin.

Willkommen im falschen Film! Am Drehort des Schreckens mit immer wieder gleicher Besetzung: Gestylte Eltern und ihre gestylten Kinder - in unpassenden Umgebungen.

Kinderfreie Zonen sind für Cookies ein Fremdwort

In Ausstellungsräumen für moderne Kunst, in Bars mit lauter Musik, an dicht gedrängten Ladeneröffnungen. Hochglanzfamilien im Vorführmodus. Ein neuer Typus Eltern hat sich in den letzten Jahren besonders in den Städten etabliert. Die Generation «Cool mit Kind», die Cookies.

Junge, genussorientierte und gut verdienende Eltern, die ihr Familienidyll als Gesamtkunstwerk durchkomponieren. Die ihren hedonistischen Lebensstil unkorrigiert trotz Kindern weiterführen: Kunst, Kultur, Konsum!

Cookies sind überall und überall mit ihrem Nachwuchs. Kinderfreie Zonen sind ihnen ein Fremdwort. Sie kommen mit Babys ins Openairkino, mit der Kleinkinderschar an das Preopening der Art. Man trifft sie im Rudel mit gleichgesinnten Familien im Restaurant am Samstagabend ebenso wie nachmittags in der Basler Buvette am Rheinufer. Hier, wo Hunderte von Szenesardinen dicht an dicht auf ihren Retro-Frotteetüchern liegen, sitzen, Kaffee trinken und Zeitungen lesen.

Und es den Kindern natürlich zu eng ist da und sie lieber im Plantschbecken in der unprätentiösen Familienbadi sein würden. Die anderen Sonnenanbeter, die gerne in Ruhe lesen würden, finden all die herumtobenden Finns und Tims mit Surferbadehose und schulterlangem Haar nicht mehr entzückend, sondern nur noch nervig. Genauso wie die Selbstverständlichkeit, mit der die Cookies ihre Bühnen für den adäquaten Auftritt bespielen und grenzenlose Toleranz von ihrem Umfeld fordern - Hauptsache gut aussehen dabei.

Das gilt auch für ihre Reproduktionen mit Engelsgesicht und dem gleichen Pagenschnitt wie die Mama. Cookies reden von «Stilmix» im Kinderzimmer, kaufen Ratgeber wie «Keine Angst vor Hochbegabung», bringen ihre Kleinen zum Kinderyoga, besticken Textilien mit Kindervornamen und lesen ab sofort: Das Magazin «Nido». Das Neon für Eltern.

Eine neue, wunderschön gestaltete Familienpostille, die nicht umsonst als erfolgversprechende deutsche Neulancierung gehandelt wird. Die erste Ausgabe von «Nido» (Claim: «Wir sind eine Familie!») zeigt auf jeden Fall, dass es im Moment nicht viel, aber in diesem Segment vermutlich am meisten zu holen gibt. Denn eines ändert sich auch in der Krise nicht: Konsum ist ein menschliches Bedürfnis. In Pleitezeiten halten die Konsumentinnen ihre persönlichen Ausgaben klein, bei Investitionen in die Kinder bleibt das schlechte Gewissen vom überzogenen Konto immerhin kleiner. Schliesslich ist das dort ja auch «gut investiert». 25 Anzeigenseiten begleiten die Erstausgabe von «Nido», die mit rund einer Viertelmillion Exemplaren startet und in der Schweiz 7.90 Franken kostet.

Das Ziel des neuen Magazins ist klar: Die veränderten Lebensumstände bei einer Familiengründung brauchen eine zeitgemässe Protokollführung. Im Unterschied dazu sehen andere Familienmagazine aus wie Krankenkassenbroschüren. «Nido» ist so chic wie eine Altbauwohnung mit Flügeltüren.

«Eltern werden muss ja nicht bedeuten, dass wir unseren ursprünglichen Humor, unser Interesse an Mode, Popkultur und Gesellschaftspolitik, Karriere und geschmackvollem Wohnen gänzlich aufgeben», so Timm Klotzek, der «Nido»-Chefredaktor in einem Interview zur Lancierung, «wir sehen die Dinge jetzt eben aus einer anderen Perspektive.» Das bringt die Haltung der Cookies auf den Punkt - vor den Kindern ist nach den Kindern.

Im Unterschied zu früher werden die Kinder nicht nur zur Projektionsfläche für die eigenen Wünsche, sondern die Eltern stülpen ihnen auch noch die Bedürfnisse der Erwachsenen und ihr eigenes Stilempfinden über.

Oder welcher Zweijährige zieht das vertraute Zuhause einer anstrengenden Reise um die Welt nicht vor? Welches Schulmädchen interessieren schon die Lumas-Kunstwerke an ihrer Kinderzimmerwand, wenn es doch viel lieber Ponyposter aufhängen würde?

Schaut, schaut, wir müssen auf gar nichts verzichten

Und die erschöpften Kleinkinder, die man immer wieder mit ihren Eltern an Elternveranstaltungen trifft, tun einem oft einfach nur leid. Die Botschaft der Cookies scheint zu lauten: «Schaut uns an, wir müssen trotz Kindern auf nichts verzichten.» Doch das ist falsch. Natürlich verzichtet man auf vieles. Und das ist auch gut so. Vor allem, wenn die Kinder klein sind. Der Familienalltag im Vorschulalter ist nun mal nicht so durchgestylt, wie uns die Cookies das vormachen wollen.

Helle Kaschmirdecken auf Knoll-Sofas haben eine durchschnittliche Lebensdauer von etwa zwei Minuten. Die blütenweisse Jeans sieht zum Kinderwagenschieben noch gut aus, im Sandhaufen aber sind sie unpraktisch. Das Gleiche gilt für die eng geschnittenen Röhrenjeans von Baby-Gap, mit dem das Krabbelbaby zwar aussieht wie Robert Pattinson, aber dafür nicht vom Fleck kommt.

«Wir sind thematisch klar El-
tern- und nicht Kinder-orientiert», sagt auch Timm Klotzek von «Nido». «Lebensgefühl-Journalismus» heisst das auf der Münchner Redaktion.

«Der Proteststurm wäre bestimmt gigantisch»

Alles in glänzende 162 Seiten verpackt, die einen extrem modischen Ton anschlagen: «Stilgemixte» Traum-Kinderzimmer, eine Reportage über die Adoption eines kolumbianischen Jungen, eine Reisereportage aus Neuseeland und eine Porträtreihe von Aupairs, die alle aussehen wie Miss Venezuela persönlich. Wie sexy es doch plötzlich sein kann, eine Familie zu sein!

Matteo, Galerist in Zürich, hat sich jetzt überlegt, seine Vernissagen als «kinderfreie Zone» einzurichten. «Der Proteststurm wäre bestimmt gigantisch», schmunzelt er, kurz bevor die Kunstsaison losgeht. Doch er kennt viele, die es stört, wenn Dreijährige mit den Like-a-Bikes in Galerien herumfahren. Dies öffentlich zu sagen, getraut sich hingegen niemand. Sich an Kindern zu stören, gehört zum letzten grossen Tabu in der Gesellschaft. Dabei sind es gar nie die Kinder, die nerven, sondern die Eltern, die sie nicht einfach zu Hause lassen.

Übrigens, die Autorin hat zwei Kinder, fünf- und dreijährig

Kommentare

Andrea Mordasini, Bern hat gesagt…
Eines vorweg: Ja, ich bin stolz, glücklich und dankbar Mami zweier Kleinkinder zu sein, und finde das cool! Und ja, ich bin mit meinen beiden Kindern oft und viel unterwegs (zu Fuss, per ÖV) sei es im Bad, im Zoo, beim Einkaufen in der Stadt und sogar an Parties bei Freunden. Solange die Kleinen dabei Spass haben und sich und andere nicht gestört fühlen, sehe ich kein Problem. Schön, dass ich unterwegs bis jetzt selten bis gar nie schlechte Erfahrungen machen musste. Unterwegs mit dem ÖV (bin nicht mobil) wird mir oft einfach so ins Tram/in den Bus rein und raus geholfen und drinnen Platz gemacht. Schade, dass andere nicht so rühmen können wie ich. Aber vielleicht liegts auch ein wenig an meinem unkomplizierten und freundlichen Wesen? Denn, wie sagt man so oft: „C’est le ton qui fait la musique“ oder „wie man in den Wald ruft, so tönts hinaus“.

Sollen wir Eltern tatsächlich aus Rücksicht vor genervten Kinderlosen und „Kindergeschädigten“ tagein tagaus zu Hause rumsitzen? Nein, ganz bestimmt nicht! Auch wir haben das Recht, das Familienleben ausserhalb der eigenen vier Wände zu geniessen. Bei Einladungen an Feste befolgen mein Mann und ich folgende Regeln:

1. Sind Kinder überhaupt erwünscht? Wenn nicht, dann auch ok, so haben wir mal wieder einen Abend für uns ;-). Dann wird eben ein Babysitter organisiert, der bei uns zu Hause die Kinder hütet (Mami, Schwiegermutter, Götti, Gotte, beste Freundin,…).

2. Wo wird das Fest stattfinden und wie viele Leute werden in etwa anwesend sein? Falls zu viele, verzichte ich liebend gerne auf den Event oder organisiere Babysitter.

3. Bei (zuviel) Rauch, Lärm etc. kommt für uns ein Besuch mit Kindern ebenfalls nicht in Frage.

Ich habe kein Problem, zugunsten der Kinder auf irgendwelche Anlässe zu verzichten. Ich gehe nach dem Prinzip weniger ist mehr und geniesse dann diese besonderen „Ausgänge“ umso mehr. Mühe habe ich hingegen mit Eltern, welche ihre Babys und Kleinkinder überall hinschleppen und präsentieren müssen, ohne sich Gedanken zu machen, ob sich die armen Kleinen dabei wohl fühlen. Nur weil die Eltern auf nichts verzichten wollen und am liebsten ihren gewohnten Lebensstil nach dem Motto „vor dem Kind ist nach dem Kind“ weiterführen wollen, werden die Kleinen an „jede Hundsverlochete“ mitgenommen. Das finde ich voll uncool! In diesem Falle sind nicht in erster Linie die bösen Kinderlosen verständnislos und kinderunfreundlich, sondern leider die Eltern… Dass Kleinkinder nicht an ohrenbetäubende Musikfestivals und in verrauchte stinkige Lokale gehören, sollte jedem mit etwas gesundem Menschenverstand selbstverständlich sein! Leider habe ich schon das Gegenteil erlebt (Gurtenfestival, Streetparade!…) Dies ist nicht nur verantwortungslos, sondern schlichtweg egoistisch und hat mit cool und locker nicht das Geringste zu tun!

Das heisst jedoch nicht, dass Mütter und Kinder nirgends mehr hinsollen, im Gegenteil! Kinder sind unsere Zukunft, die Gäste und Kunden von Morgen! Es darf nicht sein, dass in unserem „modernen“ Zeitalter eine stillende Mutter und ihr Kind aus einem Lokal geworfen werden und Kindern der Zugang zu Restaurants verwehrt wird.

Ein wenig mehr Toleranz, Rücksicht und gesunder Menschenverstand seitens der Kinderlosen und der Eltern – und die Welt mit Kindern sieht schon wieder viel besser aus… auch im Restaurant, an der Party oder wo auch immer ;-)!

Ein wenig mehr Miteinander und Füreinander statt Gegeneinander kann doch nicht so schwer sein, oder?!

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