Sex? Nein, danke!
In unserer hypersexualisierten Zeit können Frauen und Männer im Bett tun, was sie wollen. Verdächtig ist erst, wenn sie im Bett nur schlafen.
«Suche Partner für platonischen Austausch. Sexuell
Interessierte bitte gar nicht erst melden.» Ein Inserat, das keinen
Seltenheitswert hat. Nicht einmal im sinnesfreudigen Frankreich, dessen
Bewohner in Sexumfragen regelmässig zu den Europameister gehören und es
gut und gerne dreimal pro Woche tun. Einer Umfrage des französischen
Dating-Services parship.fr zufolge, könnte jeder vierte Befragte ohne Probleme auf Sex verzichten. Darunter erwartungsgemäss etwas mehr Frauen.
Ist
in unserer hypersexualisierten Gesellschaft vielleicht Abstinenz der
neue Trend? Die Verkaufszahlen von Sophie Fontanels eben auf deutsch
erschienenem Buch «Das Verlangen»
könnte das suggerieren. Immerhin führte ihr Bericht über eine
zehnjährige sexuelle Auszeit wochenlang die französischen
Bestsellerlisten an. Das Buch muss einen Nerv getroffen haben.
Nicht nur für Kleriker
Und
weckte erstaunliche Reaktionen: «Danke, Sophie!», «So wahr!» oder
«Endlich!» konnte man letztes Jahr gleich nach Erscheinen der
französichen Ausgabe von «L’Envie» auf ihrem Blog lesen. Offenbar teilen
viele Franzosen das «Schicksal» der 50-jährigen Journalistin und
Bloggerin, die kein bisschen langweilig oder verbittert wirkt: Sex ist
nicht das einzig Wahre, man kann auch darauf verzichten und trotzdem
glücklich sein.
Abstinenz, das zumindest
zeichnet sich ab, ist im neuen Jahrtausend nicht mehr Klerikern oder
Einsiedlern vorbehalten. Sie ist auch nicht mehr eine Frage des Alters
oder der (negativen) Erfahrung. Ob temporär, chronisch oder langfristig,
die Absenz von Sex gibt es überall, wenn auch diskret gelebt. Denn noch
immer gilt: kein Sexualleben zu haben, oder - noch schlimmer - gar
keines zu wollen, ist das letzte Tabu unserer hypersexualisierten Zeit.
Sextoys,
SM, bi-, poly- oder homo-amoureuse Beziehungen gehören zu modernen
Gesellschaften, wie Autos, Handys und Mikrowelle. Aber ein Leben ohne
Sex? Unvorstellbar! So musste sich Fontanel mehr als einmal anhören, ob
mit ihr alles o.k. sei, ob sie vielleicht lesbisch sei oder sich sogar
von einem Fernsehmoderator vorwerfen lassen, sie habe wohl kaum
freiwillig auf Sex verzichtet, wahrscheinlich wollte sie einfach keiner
haben. Sie hätte sogar Liebhaber «erfunden», damit ihre Freunde nichts
merkten, wie sie in ihrem Buch gesteht.
Asexuelle gab es schon immer
Das
Unverständnis im Umfeld ist gross, wenn jemand es wagt, sich als sexlos
lebend zu outen: Im besten Fall wird einem der Prüderie-Vorwurf
gemacht, im schlimmsten Fall aber, gilt vorab Frau als Heuchlerin, die
den Mangel an Sexpartner zum freiwilligen Verzicht hochstilisiert. Dabei
ist Asexualität die vierte sexuelle Orientierung neben der hetero-, der
homo- und der bisexuellen. Und ähnlich wie Schwule und Lesben müssen
Asexuelle als Minderheit um Anerkennung kämpfen. So beschrieb es
zumindest der Sexualforscher Volkmar Sigusch letztes Jahr in der NZZ.
Im übrigen ist Asexualität nichts Neues. Bereits Alfred C. Kinsey stellte dieses «Phänomen» in seinem berühmten Rapport
vor mehr als 50 Jahren fest. Doch diese sexuelle Orientierung wurde
gerade in den folgenden, freizügigen Sechzigern komplett ignoriert.
Betroffene suchten die Schuld bei sich selber oder in der Beziehung.
Erst nach 1990 brachte das Internet erste private Seiten zum Vorschein,
auf denen Menschen sich zu «No Sex» bekannten. Doch Namen wie «Leather Spinsters» (Lederne Jungfern) oder «Heaven for the Human Amoeba» (Der
Himmel für die menschliche Amöbe) geben Einblicke in ein soziales
Denken, das Asexualität immer noch als etwas Seltsames ansah. Seither
findet ein regelrechtes Coming-Out statt, wenn auch nur ein sehr
langsames.
So stellt das 2001 gegründete Internetforum AVEN
((«Asexuality Visbility and Education Network») Menschen, die auf Sex
verzichten, bis heute eine Plattform für Diskussion und Austausch zur
Verfügung. AVEN macht auch medial auf die vierte sexuelle Orientierung
aufmerksam. Genau wie Sophie Fontanel wehren die Initianten sich gegen
die Abwertung des sexlosen Lebens in einer platonischen Beziehung. Und
somit gegen das letzte Tabu.
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