Im Namen des Kindes

Wenn Paare sich scheiden lassen, erhalten meistens die Mütter das Sorgerecht. Viele Väter sind daher frustriert. Der Bundesrat will ihnen jetzt mit einem neuen Gesetz helfen. Und gibt den Vätern mehr Einfluss. Hat er sich das gut überlegt?

Text: Mathias Ninck für DAS MAGAZIN


Die Kohlers sind eine ordentliche Familie. Ja, richtig ordentlich sind sie und durchorganisiert und systematisch. Und doch, die Kohlers leben in einem Nest. So nennen sie es, und das klingt natürlich ein wenig nach Durcheinander, nach herumliegenden Stofftieren, nach umge-kippten Schultheken, verstreuten Farbstiften und Strumpfhosen, das riecht nach der warmen Muffigkeit einer Familie, die sich tapfer und vergeblich der ewigen Kraft der Unordnung entgegenstemmt.
In dem kleinen unspektakulären Einfamilienhaus, weiss gestrichen, mit Steinplatten und frisiertem Buchsbaum davor und einem Wintergarten dahinter, sauber aufgereiht neben sieben identischen Häusern, irgendwo in der Agglomeration zwischen Baden und Basel, liegt aber kaum etwas herum. Kein Buch, keine Spielsachen, kein Verschönerungs-Schnickschnack, weder Blumen noch Fotos oder Kinderzeichnungen. Eine Kerze, das ja. An der Wand die Stundenpläne der drei Kinder. Die Stube: ein Esstisch, sechs Stühle, ein Regal. Die Vorhänge haben ein lila Blumenmuster. In den Kinderzimmern: Bett, Pult, Einbauschrank. Beim Jüngsten, dem zehnjährigen Sven, immerhin, verweist etwas unübersehbar auf eine Leidenschaft; an der Wand hängt das Poster von Fernando Torres, dem Spitzenfussballer beim FC Liverpool.

Die Nüchternheit dieses «Nests» ist wohl der Tatsache geschuldet, dass die Wohnung praktikabel sein muss: Gion und Denise Kohler (die in Wirklichkeit anders heissen), die Eltern, fliegen wie Vögel ein und aus und versorgen abwechselnd die Jungen mit Futter und Zuneigung. Vor zwei Jahren, ein paar Monate nach ihrer Trennung, haben sie das so eingerichtet, haben das «Nestmodell» gewählt, wie es die Juristen nennen. Die Eltern sind ausgezogen, jeder in eine eigene, billige Einzimmerwohnung, die Kinder blieben, wo sie immer waren. Ist der Vater dran, zieht er zu den Kindern, kocht und putzt und wäscht, und dann packt er seinen Rucksack und geht wieder, während Denise auf dem Velo sitzt und aus Lenzburg anreist. Manchmal kommen mit den Eltern die neuen Partner mit, es ist ein Ein und Aus, vier Erwachsene und drei Kinder, die in wechselnder Formation in dem Haus zusammenleben.
Im März 1994 hat Gion Kohler in der Zeitung eine Annonce aufgegeben. Suche Leute zwischen 25 und 40 für Hochgebirgstouren. Er war 30 Jahre alt. Zehn Leute meldeten sich, darunter die damals 24-jährige Denise, im Sommer darauf war sie schwanger. Hochzeit im Februar 1995, «es war eine Hochzeit in Weiss», sagt sie, «es lag haufenweise Schnee». Gion und Denise sitzen am Stubentisch, ein eiskalter Nachmittag im November, schwärmerisch erzählt sie von dieser Hochzeit im Berghotel Waldhof, von den «vielen schönen Produktionen», vom Gedicht ihrer Schwester… Da unterbricht er sie mitten im Satz: «Bist du verlobt?»
Sie senkt den Blick auf ihre rechte Hand. «Nein, es ist ein Freundschaftsring. Hast du den jetzt zum ersten Mal gesehen?»
«Den sehe ich zum ersten Mal.»
«Hab ihn auch ganz neu.»
Sie schauen sich an.
«Ich möchte dann nicht zu spät sein mit Gratulieren», sagt er trocken.
Da wiehert sie vor Lachen und sagt: «Herrgott, du bisch eine.»

Im Herbst 2008 hat das Gericht die Kohlers geschieden, seit drei Wochen ist das Urteil rechtskräftig. Die Ehe ist vorbei, vierzehn Jahre nachdem sie im Obertoggenburger Schneegestöber mit fröhlichem Tamtam begonnen hatte. Jetzt könnten die beiden ihrer Wege gehen. Doch sie tun es nicht. Sie bleiben für die nächsten sieben, acht Jahre verbunden. Sie haben das gemeinsame Sorgerecht für ihre drei Kinder beantragt, zwei Buben und ein Mädchen, und damit signalisiert, dass der Bruch ihres Bündnisses nicht das Ende der Familie bedeutet. Und der Richter hat ihnen dieses Recht zugesprochen.
Bis der Jüngste volljährig ist, werden sich Denise und Gion nun immer wieder zusammensetzen und die wichtigen Dinge ihrer Kinder gemeinsam regeln. Soll der Älteste weiterhin ins Eishockey-Training gehen? Wie viele Stunden pro Woche darf er am Computer sitzen? Wie viel Sackgeld bekommt die Tochter? Obwohl das vernünftig und verallgemeinerbar aussieht – die Kohlers sind doch ein Sonderfall. Das gemeinsame Sorgerecht erhält hierzulande nur jedes vierte Scheidungspaar. In der Mehrheit der übrigen Fälle wird der Mutter das alleinige Sorgerecht für die Kinder zugesprochen. Das derzeit gültige Scheidungsrecht schreibt dies vor: Der Richter überträgt das Sorgerecht einem Elternteil, in der Regel der Mutter, bei der die Kinder meistens auch wohnen. Nur wenn sich beide, Mutter und Vater, vor der Scheidung einigen und die «gemeinsame elterliche Sorge», wie sie im Juristendeutsch genannt wird, förmlich beantragen, kann der Richter von dieser Regel abweichen. Es braucht mit anderen Worten immer die Einwilligung der Mutter in die gemeinsame Sorge. Die Mütter haben damit einen Trumpf in der Hand: Wenn sie nicht wollen, haben die Väter nach der Scheidung bezüglich Kindererziehung nichts mehr zu sagen.

Ist das gerecht? Die Frage beschäftigt die Juristen seit einem guten Jahrzehnt. Es war Ende der Neunzigerjahre, in einer Anwaltskanzlei in Schwyz, als zwei junge Anwälte aufeinander einredeten, mal ruhig, bald fiebrig, wochenlang. Damals wurde im eidgenössischen Parlament gerade das Scheidungsrecht überarbeitet, zentraler Punkt war die Frage, ob die gemeinsame elterliche Sorge möglich sein soll. Der eine Anwalt fand: Wenn die Eltern auseinandergehen, sind Streitereien über die Erziehung der Kinder absehbar. Der Zank geht immer weiter, weshalb es nötig ist, ein für alle Mal zu wissen, wer das Sagen hat. Es muss Ruhe einkehren! Der andere Anwalt hielt dagegen, das Ende einer Partnerschaft habe mit der Elternschaft nichts zu tun. «Man ist Mutter und Vater, egal, ob man sich liebt oder streitet. Es ist ein Job, den man 20 Jahre lang hat.» Er war ein Idealist, dieser Anwalt, und er sagte damals zu seinem eher nüchtern veranlagten Büropartner: «Väter und Mütter haben die Pflicht, als erwachsene Männer und Frauen sich im Interesse der Kinder aus ihren Schmerzen, ihrer Wut und aus dem ganzen Hass herauszuarbeiten. Sie müssen sich verständigen, sonst machen sie sich schuldig an den Kindern. Kinder haben das Recht auf eine gute Kindheit.» Er fand, das müsste eigentlich im Gesetz stehen.

Geschlechterkrieg
Der Anwalt heisst Reto Wehrli. Er ist 43 Jahre alt, katholisch, Vater eines Sohnes. Jahre nach dieser Diskussion mit seinem Büropartner wurde er für die CVP in den Nationalrat gewählt, das war 2003. «Da sagte ich mir: So, jetzt hast du die Gelegenheit.» Er reichte ein Postulat ein mit dem Titel «Elterliche Sorge – Gleichberechtigung», in dem er den Bundesrat auffordert, «zu prüfen, wie die gemeinsame elterliche Sorge bei nicht oder nicht mehr miteinander verheirateten Eltern gefördert und ob die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall verwirklicht werden kann». Bundesrat Blocher, in dessen Zuständigkeit die Sache fiel, empfahl dem Parlament, den Vorstoss anzunehmen. Als es dann am 7. Oktober 2005 im Nationalrat zur Debatte kam, wurde rasch klar, worauf es hinauslaufen würde – auf einen Geschlechterkrieg.

Jacqueline Fehr, Anita Thanei, Ruth-Gaby Vermot, altgediente Sozialdemokratinnen, sagten Sätze wie: «Ich habe mich bei geschiedenen Frauen umgehört, hier im Saal, draussen im Leben. Das Bild ist ziemlich einheitlich. ‹Wieso denn eine Scheidung, wenn es nachher gleich weitergeht wie vorher?›, sagen diese Frauen. ‹Damit wäre doch der Streit nur weitergegangen. Ich hätte mich mit allen Mitteln dagegen gewehrt› – das ist der Tenor. Wer glaubt, dass die Frauen das gemeinsame Sorgerecht einfach so akzeptieren würden, täuscht sich.» Und: «Es sind meistens die Frauen, die Teilzeit arbeiten; es sind die Frauen, die mit den Kindern zum Zahnarzt gehen, es sind die Frauen, die die Kinder in den Kindergarten und in die Schule bringen. All diese Männer, die jetzt auf einmal mitsprechen wollen, wollen nicht mittätig sein, sie wollen eben nur mitsprechen.» Und: «Hinter dem Postulat stehen militante Männerorganisationen. Sie kämpfen um Macht über die Kinder und über die Frauen.»
Das feministische Gelände war markiert.

Auf der anderen Seite mischten sich SVP-Politiker wie Caspar Baader oder Oskar Freysinger in den Kampf. «Frau Fehr, Sie kämpfen ja immer für die Gleichbehandlung der Geschlechter. Finden Sie es tatsächlich richtig, dass bei der heutigen Regelung das Sorgerecht nur dem einen oder dem anderen Elternteil zusteht? Entspricht das Ihren Vorstellungen von Gleichberechtigung?»

Entlastung
Am anderen Tag schrieben die Zeitungen, die Debatte über das Scheidungsrecht habe einer Verhandlung vor dem Scheidungsrichter geglichen. Ein gefühlsbestimmter Schlagabtausch, Mann gegen Frau. Dabei hatte Chantal Galladé, die junge strebsame Zürcher Sozialdemokratin, der Sache einen neuen Drall gegeben. «Es fällt mir auf», hatte sie in den Saal gerufen, «dass dieser Vorstoss von vielen unterschrieben wurde, die der jüngeren Generation angehören. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir Jüngeren eher schon als Kinder von Scheidungseltern aufgewachsen sind. Wir sind also quasi die Scheidungskindergeneration. Wir sind es, die in diesem Staat von dieser Regelung potenziell betroffen sein werden, weil wir kleine Kinder haben und dann vor diese Fragen gestellt werden. Deshalb möchte ich an Sie appellieren: Lassen Sie uns unsere Probleme doch auf unsere Art lösen. Wir haben einen anderen Ansatz, eine andere Vision, wie man hier als Paar oder als Eltern miteinander umgehen könnte. Lassen Sie es uns doch einfach mal probieren. Unterstützen Sie das Postulat!»

Das gemeinsame Sorgerecht. Gion Kohler räuspert sich. Es war damals, als sich die Trennung abzeichnete, ein Spaziergang auf die Lägern, bei dem er und Denise die Frage anpackten. Er sagte zu ihr: «Behalten wir wenigstens das gemeinsame Sorgerecht?» Für sie war das keine Frage, sie erinnert sich nur vage an den Spaziergang und das Gespräch. «Ich hatte gehofft, dass wir die gemeinsame Sorge haben würden», sagt sie. «Die Kinder haben das Recht, eine Beziehung zum Vater zu haben. Gerade für die Buben ist das wichtig.»

Wie hehr das klingt. Viel zu edelmütig, wenn man Gion Kohler fragt. «Jajaja», brummt er. «Du darfst jetzt schon zugeben, dass es für dich Vorteile bringt. Es ist eine Entlastung. Du hast viel mehr Freiheit.»
Sie nickt. «Es ist eine Entlastung, ganz klar.»

Recht zahm sitzen die geschiedenen Eheleute da am Stubentisch, aber das war nicht immer so. Sie haben zweieinhalb Jahre zähes Ringen hinter sich, zuerst die Eltern- und Trennungsvereinbarung, dann die Scheidungskonvention, und sie haben rund 9000 Franken ausgegeben für die Sitzungen mit ihrem Anwalt und Mediator. «Ohne den hätten wir die Kurve nicht gekriegt», sagen sie beide. Die Kohlers haben, wie sie sagen, ihre Fähigkeit, die Paarprobleme von der Kinderfrage zu trennen, «dank der Mediation» ausgeschöpft. «Zum Glück haben wir es ohne Kampf um das Sorgerecht geschafft.»
Verletzungen sind geblieben, klar. Enttäuschungen. Anfangs wollte Gion «den Spiess umdrehen». Er sagte zu seiner Frau, sie habe zehn Jahre lang den Kindern geschaut, jetzt sei er dran. Jetzt solle sie arbeiten und das Geld verdienen und er betreue während den nächsten zehn Jahren die Kinder.
«Da habe ich gesagt: Aber hallo!»

Ein Guru werden
Denise arbeitet in einem Gastrobetrieb, es ist eine 40-Prozent-Stelle, sie hat unregelmässig Dienst. Mal tagsüber, mal abends. Ab und zu am Wochenende. Er ist gelernter Schreiner, inzwischen gibt er Weiterbildungskurse, coacht KMU-Chefs, und zusammen verdienen sie brutto 120 000 Franken im Jahr. Die Kohlers sind also eine Mittelstandfamilie, wie es sie zu Tausenden gibt in der Schweiz. Nicht arm, aber jeder Franken zählt. In ihrem Kühlschrank stehen M-Budget-Produkte.

Vor der Trennung war sie ganz Hausfrau und Mutter. Und jetzt das: «den Spiess umdrehen»? Auf ihrem Gesicht erscheint ein Anflug von Ärger. «Die ersten zehn Jahre waren Knochenarbeit. Ständig die Babys rumtragen, am Tisch drei Mäuler löffeln oder etwas zerschneiden, oft kam ich zum ersten Bissen, wenn alles schon kalt war. Und die Nächte! In den ersten Jahren habe ich keine Nacht durchgeschlafen.» Sie macht eine Kunstpause und dann eine Handbewegung in die leere Stube. Und heute? Die Tochter ist beim Schlittschuhlaufen, der Älteste bei seiner Freundin; Sven sitzt oben am Computer. «Die Kinderbetreuung ist heute doch etwas ganz anderes.»

Den Spiess umdrehen: Manch eine Mutter würde sich das wünschen. Warum hat es Denise ausgeschlagen?
«Ich habe Nein gesagt», sagt sie trotzig.
«Den Spiess umdrehen, das wäre nur fair gewesen», wiederholt Gion, und seine Stimme klingt bedrückt. Er redet bedacht (während Denise impulsiv ist und oft unvermittelt laut wird), er sagt es noch einmal, ja, doch, er hätte das gerne gemacht. «Aber ich habe eingesehen, dass du, Denise, dazu nicht Hand bietest, und ich habe mich gezwungen gesehen, im Sinne einer für alle guten Lösung nachzugeben.»

Denise streckt ihren drahtig-athletischen Körper mit einem Ruck durch. «Hey. Hundert Prozent im Service arbeiten ist extrem anstrengend. Der Level ist hoch, da wäre ich innerhalb eines Jahres ausgebrannt gewesen. Ich würde es schlicht nicht schaffen. Und was ich als meinen Hauptjob will, das sind meine Kinder. Ja. Darum habe ich in der Mediation auf den Tisch geklopft und gesagt: So nicht! Ich habe gesagt: Ich unterstütze das nicht, dass du daheim herumsitzt und dich selber verwirklichst und ein Guru wirst.» Gion habe so Ideen gehabt, erklärt sie, ein bisschen Haushalt und daneben «so gurumässig öppis» zu machen, «und ich müsste mich abkrüppeln».
Gion: «Du hast nicht gecheckt, dass ich mich in den vergangenen zehn Jahren genauso abgekrüppelt habe.»

Und so funktionieren sie heute, die Kohlers: Die Mutter betreut die Kinder im «Nest» von Montag bis Donnerstag, am Donnerstagabend essen sie gemeinsam Znacht, dann übernimmt der Vater – und zwar jedes zweite Wochenende bis am Montagmorgen. An den anderen Wochenenden quittiert Gion am Freitag den Familiendienst und zieht sich in seine Einzimmerwohnung zurück. Einmal pro Woche, wenn die Mutter im Hotel Schicht hat, übernimmt er einen zusätzlichen Tag.
«Die absolute Gerechtigkeit gibt es nicht», sagt Gion. «Aber klar, wenn einen die Gefühle überfluten, Ärger und Hass und was auch immer, dann ist man blockiert.»

Gerechtigkeit sei wichtig, meint Denise, man dürfe gefühlsmässig nicht den Eindruck haben, man komme zu kurz. «Das war uns während des ganzen Prozesses mit dem Mediator gar nicht bewusst. Aber rückblickend war das wohl der Grundgedanke, der hinter allem steckte. Mit Blick auf die ungefähre Ausgewogenheit hat der Mediator uns sanft gelenkt, wenn nötig auch mal mit einer provokativen Bemerkung.»

Den Umgang mit den Kindern haben die Kohlers genau geregelt. Sie wussten um das Risiko des Scheiterns. «Wahrscheinlich findet man in der Schweiz niemanden mit einer so ausführlichen Scheidungsübereinkunft.» Normalerweise raten Anwälte vom sogenannten Nestmodell ab, häufig bricht es tatsächlich nach zwei, drei Jahren auseinander. Meistens dann, wenn neue Partner ins Spiel kommen. Da findet dann einer ein Haar in der Dusche und hat sofort eine Fantasie. Bei Kohlers hiess es darum in der Vereinbarung: «Neue Partner nehmen nicht am Nest teil.» Später strichen sie diesen Passus wieder, dazu wurden die Kinder befragt, der Mediator konsultiert. Und das Haus wurde umgebaut. Jeder Elternteil hat nun ein eigenes Schlafzimmer mit Dusche. Und wenn einer am Wochenende Besuch des neuen Partners hat, muss danach das WC «grob gereinigt» werden – so stehts in der Vereinbarung.

Empörung, Wut
Viele Juristen und Psychologen sehen heute in der schwächeren Rechtsposition der Väter eine Diskriminierung des Mannes zugunsten eines Müttermonopols. Dass Väter nach jahrelangem Familienleben bei einer Scheidung ohne Rücksicht auf die Umstände vom Sorgerecht ausgeschlossen werden können, führt zu Empörung und Wut. Seit ein paar Jahren sammelt sich dieser Zorn in Vätervereinigungen, von denen alle paar Monate ein neuer gegründet wird: «MANNzipation», «Väter ohne Sorgerecht», «Interessengemeinschaft geschiedener Väter» – hier treffen sich die Männer, deren Geschichten sich haarsträubend anhören, eine wie die andere.

Da ist der junge Vater, dessen Frau nach der Geburt des Kindes in eine Depression abrutscht, der eingesprungen ist und alles übernommen hat, das Baby, den Haushalt, der Aufmunterungsaktionen eingeleitet hat gegen den mütterlichen Babyblues, wochenlang, und dann, irgendwann, wieder ins Büro muss. Die Beziehung geht in die Brüche. Die Frau sagt zu ihm: Gemeinsames Sorgerecht? Das kannst du dir abschminken. Und dann steht der Mann vor dem Richter, und dieser sieht, dass der Mann 80 Prozent arbeitet. Der Fall ist für den Richter klar: Die Frau bekommt das Sorgerecht.

Da ist der Mann mittleren Alters, der ein Jahr lang mit seiner Frau verhandelt hat über die gemeinsame elterliche Sorge, schliesslich ist sie einverstanden. Aber dann widerruft sie plötzlich und scheinbar grundlos (sie hat erfahren, dass ihr Ex-Mann mit seiner neuen Freundin zusammenlebt).

Die Männer in diesen Vereinen wollen nur eines: die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall bei der Scheidung. Die Heilserwartung in ein neues Gesetz ist gewaltig, jeden Tag rufen Scheidungsväter im Bundesamt für Justiz an und fragen mit brennender Ungeduld nach dem Stand der Arbeiten, oder sie wollen wissen, ob das dann auch rückwirkend noch Anwendung findet. «Viele Männer haben jahrelange Streitereien hinter sich, fühlen sich von den Behörden übergangen, von der Ex-Frau hereingelegt, und vor dem Hintergrund dieses unendlichen Drehens um sich selbst wird das Sorgerecht zu einer Art Trophäe, die man sich an die Wand hängen will», erklärt Oliver Hunziker, 43, Präsident des nationalen Dachverbandes für gemeinsame Elternschaft.

All die verbitterten und desillusionierten (und oft auch selbstgerechten) Männer werden enttäuscht sein. Kein Gesetz kann sie erlösen. Denn ob man sich nach einer gescheiterten Ehe zusammenraufen und einvernehmlich für die Kinder sorgen kann, das hängt nur in beschränktem Mass vom gerade gültigen Recht ab. Es ist zuerst einmal eine Frage des Charakters und der psychischen Gesundheit.
Und doch scheint die Zeit reif, den Männern dieses kleine Recht mit dem grossen symbolischen Gehalt zuzugestehen und – ja, klar – dieses Stückchen Macht. Reto Wehrlis Postulat wurde im Nationalrat jedenfalls deutlich angenommen – mit 136 zu 44 Stimmen. Das Bundesamt für Justiz hat seither an einer Gesetzesvorlage gearbeitet, die im Dezember 2008 fertig geworden ist. Es schlägt darin das gemeinsame Sorgerecht als Regelfall vor, unabhängig vom Zivilstand. Es verlangt in anderen Worten von den Scheidungspaaren den grossen Spagat der Gefühle: Obwohl sie nichts mehr miteinander zu tun haben wollen, müssen sie sich regelmässig zusammen an einen Tisch setzen und die wichtigen Kinderfragen klären. Das Gesetz wirft die (ehemaligen) Paare also zurück auf die Elternschaft, genau wie Reto Wehrli das in seinem Postulat reklamiert hat. Eveline Widmer-Schlumpf, die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, wird den Gesetzesentwurf in den nächsten Wochen dem Bundesrat vorlegen und dann in die Vernehmlassung schicken. In zwei oder drei Jahren könnte das Gesetz in Kraft sein.

Theoretisch. Denn politisch ist die Sache längst nicht entschieden. Ein unverbindliches Postulat ist das eine, ein Gesetz etwas anderes. Die Vorlage hat zwei Knackpunkte. Zum einen die Frage, was die gemeinsame elterliche Sorge alles beinhalten soll. Sicher das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Aber muss dann eine Mutter, wenn sie mit ihrem Kind von Zürich nach St. Gal-len ziehen will, erst das Einverständnis des Vaters einholen? Eigentlich schon. Aber was bedeutet das in einer Zeit, in der die Flexibilität der Arbeitnehmer eine so grosse Bedeutung bekommen hat? Was bedeutet das vor dem Hintergrund, dass heute mehr als die Hälfte aller Ehen binational sind?

Aufruhr verursachen wird zum andern der Umstand, dass künftig nicht nur Geschiedene automatisch das gemeinsame Sorgerecht bekommen sollen, sondern auch die Unverheirateten – also Eltern im Konkubinat. Manch ein Politiker wird das als Angriff auf die Institution Ehe deuten, manch einer wird die Frage stellen: Warum soll man dann noch heiraten?

Langsam setzt sich der Gedanke im öffentlichen Bewusstsein fest, dass wir in der Schweiz vor einem emotional folgenreichen Moduswechsel stehen. Reto Wehrli, der Schwyzer Nationalrat, reist schon seit einem Jahr durchs Land, von Podiumsdiskussion zu Themenabend, mal bei den FDP-Frauen Luzern, mal beim Studentenverein in Zürich. Er redet in Fernsehtalks, und meist sitzt an seiner Seite eine Frau, die auffällt, weil sie nicht wie die anderen entlang der Geschlechterlinie argumentiert. Sie heisst Liselotte Staub, ist Psychotherapeutin und Autorin eines an den Gerichten oft konsultierten Leitfadens – «Scheidung und Kindeswohl».

Liselotte Staub sagt, mit der gemeinsamen elterlichen Sorge als Regelfall würden die Probleme einer Scheidung nicht gelöst, aber die Ehepaare würden aus der heutigen Kriegslogik befreit. Und sie erzählt zur Illustration die Scheidungsgeschichte eines Lehrers, die sie für typisch hält. Dieser Lehrer hat voll gearbeitet und gleichzeitig in seiner Freizeit viel mit den Kindern unternommen. Er möchte das gemeinsame Sorgerecht, die Frau nicht. Vor dem Richter sagt er, er würde das Pensum reduzieren, er legt einen Betreuungsplan vor; der Richter meint, wenn die Frau nicht wolle, hätten sie ja ständig Konflikte und das sei für die Kinder nicht gut. An diesem Punkt ändert der Anwalt des Lehrers die Strategie. Er sagt zu ihm: «Wir müssen auf tutti gehen. Jetzt müssen wir Vollgas geben. Sie müssen für das alleinige Sorgerecht kämpfen, und da muss der ganze Schmutz auf den Tisch.» Vor Gericht wird nun um die Kinder gestritten, es ist letztlich der Kampf um die Frage, wer der bessere Elternteil ist. «Dieser Kampf ist nie und nimmer im Interesse des Kindes», sagt Staub.

Dass heute an den Gerichten die Frage nach dem kompetenteren Elternteil gestellt wird, ist für die Psychologin nicht zuletzt ein Erbe des im Jahr 2000 überarbeiteten Scheidungsrechts. Damals hat man sich vom Verschuldensprinzip abgewendet. «Die Ausklammerung der Schuldfrage hat eine neue Kampfzone aufgetan, nach dem Motto: Wenn nicht mehr geklärt wird, wer für das Scheitern der Ehe verantwortlich ist, muss wenigstens entschieden werden, wer der bessere Elternteil ist.» Stark verkürzt, lautet die innere Logik: Wenn jemand auf der Suche nach dem Grund des Scheiterns alleingelassen wird und kein Richterspruch Klarheit schafft, sucht er auf anderem Weg den Ausgleich.

Es ist Nie zu spät
So wie manche Mütter selbstgefällig alles immer besser wissen, sind viele Väter unzuverlässig. Die Unzuverlässigkeit der Väter ist statistisch erhärtet. Liselotte Staub nennt es «die traurige Re-alität». Tatsächlich sagen viele Frauen: Er hat sich vorher auch nicht gekümmert, was will er jetzt das gemeinsame Sorgerecht! Jetzt plötzlich kann er sich um die Kinder kümmern, das ist doch himmelschreiend ungerecht. Er hat mich jahrelang allein wursteln lassen, und jetzt ist er plötzlich der liebe Papi. «Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht der Frau. Es ist die totale Beleidigung», sagt Liselotte Staub. «Aber aus Sicht des Kindes: super!» Es sei nie zu spät, Vater zu werden.

Und dann erzählt sie die Geschichte eines Vaters, der sich sechs Jahre lang nicht mit dem Sohn befasst hat, dessen Ehe letztlich daran gescheitert ist. Dieser Vater, ein Workaholic, verbringt jetzt jedes zweite Wochenende mit dem Sohn, er geht mit ihm ins Museum, macht Hausaufgaben, kurz: Er kümmert sich. Und die Frau? Die findet das überhaupt nicht lustig, sie hätte das all die Jahre gewollt. «Für das Kind aber ist es super, weil es nun die Beziehung zu seinem Vater auch leben kann. Das ist die beste Prävention gegen diese gewaltige Vatersehnsucht, die man bei vielen Kindern feststellt.»

Viele Väter entfremden sich nach der Scheidung von ihren Kindern. Sie ziehen sich zurück, weil sie kein Sorgerecht haben und als Folge davon das Gefühl dominiert, als Elternteil an Bedeutung verloren zu haben. Sie erleben es als Machtverlust, es produziert Hilflosigkeit. Mit der gemeinsamen elterlichen Sorge als Regelfall stünde aber niemand mehr als Verlierer da. Mann und Frau könnten sich auf Augenhöhe begegnen. Das, meint Liselotte Staub, habe im Ansatz etwas Befriedendes. Zudem sei es eine gute Voraussetzung für die Mediation, falls der Zwist wieder aufflackert. In den allermeisten Familien beruhigen sich die Querelen mit der Zeit, selbst wenn die Trennungsphase turbulent war. «Die gemeinsame Sorge ist auch bei Eltern mit hohem Konfliktpotenzial lebbar», sagt Staub.
Draussen, vor dem «Nest», versinken die Birken in der abendlichen Schummrigkeit. Irgendwann an diesem Mittwochnachmittag hat sich der zehnjährige Sven von seinem Computer-Game gelöst und zu den Eltern an den Stubentisch gesetzt. Mit einer Mischung aus Gleichmut und Neugier hat er zugehört, einmal sagt er, er wisse eigentlich gar nicht, warum sich die Eltern hätten scheiden lassen.
«Hast du die Eltern schon mal gefragt?»
«Nein.»
Einen Moment ist es totenstill.
Dann sagt die Mutter, die ihren Kopf aufgestützt hat, zum Sohn: «Gehst du jetzt Kerzen ziehen?»
«Ja.»
«Brauchst du noch zwei Franken für den Docht?»
«Nein, Docht habe ich. Aber ich hätte die zwei Franken trotzdem gerne.»
«Wofür?»
«Einfach so. Zum öppis chaufe.»

Die Frage, warum sich Denise und Gion Kohler haben scheiden lassen, bringt sie nicht in Verlegenheit. Nicht im Geringsten. Sie haben Buch geführt, gründlich, ein Ordner mit der Aufschrift «Partnerschaft» zeugt von den ungezählten Diskussionen in den letzten acht Jahren. «Eine Art Eheplanung war das, Beziehungsarbeit. Unser ewiges Thema war die Nähe», sagt Denise. Und zu Gion: «Gell? Du hattest das Gefühl, ich wollte zu wenig Nähe. Dass es dann in der Sexualität auch nicht grad so läuft, liegt auf der Hand. Wir haben geredet und geredet und das alles aufgeschrieben, wir haben die Beziehung manchmal fast zerredet, so viel haben wir geredet.»
Gion: «Ich habe mir gewünscht, dass du deine Gefühle mehr zeigst. Eigentlich das, was sonst die Frauen von den Männern verlangen. Dabei bin ich auf Granit gestossen. Oder müsste ich sagen: auf Eis?»
Denise: «In diesem Punkt gab es keine Lösung. Wir hatten beide eine Not, und die vielen Blätter, die wir vollgeschrieben haben, waren Ausdruck davon. Wir sind beide logische, klar strukturierte Menschen, und wir haben vielleicht versucht, so aus der Endlosschleife herauszufinden.» Den Ordner hat Denise im letzten Oktober entsorgt, und Gion, der das jetzt erfährt, wundert sich. Wie konntest du! Dann reden sie über dies und das, über seine Erkrankung und die damit verbundenen Ängste, und einmal sagt er: «Ich weiss nicht, wann es anfing, dass du dich dafür interessiert hast, dir auswärts einen anderen Freund zu holen.»
Ein heller Aufschrei ihrerseits. «Nur schon diese Formu-lierung!»
Das Telefon klingelt. Gion nimmt ab. Er sagt: «Doch, doch, die wohnt auch da.» Er gibt seiner Frau, die jetzt seine Ex-Frau ist, den Hörer und sagt: «Wegen dem Kleid.» Sicher, sagt Denise in den Hörer, sie komme es abholen, heute, noch vor halb sechs. Als sie auflegt, kann sich Gion den Kommentar nicht verkneifen. «So, kaufst du ein schönes Kleid?»
Denise Kohler stöhnt und schlägt in einer theatralischen Geste die Hände über dem Kopf zusammen. «Man kann auch nichts geheim halten in diesem Haushalt! Da ist man geschieden, aber der andere weiss immer noch alles!» Dann explodiert sie in ein Gelächter, und er lacht leise mit.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Das gemeinsame Sorgerecht ist sicherlich zeitgemäss. Solange die Elternteile "vernünftig" miteinander umgehen und kommunizieren können, lässt sich dies auch - zum Wohle der Kinder - umsetzen. Ist dies nicht der Fall, tritt jedoch gegenüber der aktuellen Lösung keine Verbesserung ein. Sobald sich ein Elternteil gegen die Beschlüsse und Erlasse sträubt, geraten die Kinder zwischen die Fronten der beiden Parteien. Dies vermag auch das gemeinsame Sorgerecht nicht zu ändern. Leider.

Beliebte Posts